Dezentralschweiz

Wie die Coronakrise zu mehr Sesshaftigkeit und Dezentralisierung führen kann und was das für uns und unsere Lebensräume heisst

Mit diesem Buch wollen wir einen Damm bauen. Einen kleinen Damm, aber immerhin. Einen Damm im Strom all der flüchtigen Interpretationen zu möglichen Konsequenzen und Lehren aus der Coronakrise, dieser Periode einer fundamentalen sanitarischen Unsicherheit, die im Vorfrühling 2020 Europa und die Schweiz erfasst hat. Einen Damm, der es gestattet, Erkenntnisse für die künftige Gestaltung unseres Lebensraums zu betrachten, zu analysieren und die substanziellen unter ihnen aus dem breiten Fluss der plätschernden Fakten und Einschätzungen herauszufischen.
Wir suchen nach Antworten auf zwei Fragen: Welche Perspektiven ergeben sich aus der zentralen Erfahrung der flächendeckenden Heimarbeit in den Dienstleistungsindustrien während den Lockdowns von Mitte März bis Mitte Mai 2020 und von Mitte Januar 2021 für die Raumentwicklung der Schweiz, also für die Entwicklung der Mobilität, des Siedlungsraums und der Landschaft? Und wie lassen sich diese ergreifen?
Aus diesen wesentlichen Erkenntnissen wollen wir begründet ableiten, welche Akzente bei der Gestaltung von Landschaft, Mobilität und Siedlung in der Schweiz basierend auf den konkreten Erfahrungen der Jahre 2020 und 2021 zu verstärken oder neu zu setzen sind – also bei dem, was wir landläufig unter Raumplanung oder Raumentwicklung verstehen. Wir tun das vor dem Hintergrund der beiden zentralen Herausforderungen für unser aller Wirken, denen wir in den nächsten Jahrzehnten Rechnung tragen müssen: Die Erderwärmung, die sich durch eine Reduktion des Schadstoffausstosses eindämmen lässt, wird die Begleitmusik all unseres Handelns in den nächsten Jahrzehnten sein. Und der haushälterische Umgang mit dem knappen, nicht vermehrbaren Boden ist ein dauerhaftes Gebot. Dass neben diesen ökologischen Notwendigkeiten immer auch die beiden anderen Nachhaltigkeitsgesichtspunkte der wirtschaftlichen Tragfähigkeit und des gesellschaftlichen Friedens zu berücksichtigen sind, versteht sich von selbst.
Wir lassen uns dabei von zwei Grundthesen leiten:
Erstens: Der Lebensstil all der täglich nomadisierenden Pendler aus der Dienstleistungsindustrie lässt sich basierend auf der Sesshaftigkeit und Dezentralisierung, die in der Corona-Krise per Dekret verordnet wurde, auf Dauer in diese Richtung verändern. Dies in einer Weise, die den durchschnittlichen ökologischen Fussabdruck inklusive des Flächenbedarfs pro Kopf reduziert.
Zweitens: Voraussetzung dafür ist nicht die grosse Geste eines Masterplans. Entscheidend ist vielmehr, dass alle Betroffenen und Beteiligten mit den zahlreichen Möglichkeiten weiter experimentieren, die sie in sanitarisch begründeten «ausserordentlichen Lage» kennen und zu einem beträchtlichen Teil auch schätzen gelernt haben. Ein «visionärer Pragmatismus» kann mittelfristig dazu führen, dass viele Menschen von den bis zur Corona-Krise stets gewachsenen Zwängen befreit werden, örtlich während der ganzen Woche mobil sein zu müssen.
Am Anfang dieses Lesebuchs steht ein knapper Rückblick auf die Lockdowns im Frühling 2020 und im Winter 2021, in dem wir die für unsere Fragestellungen relevanten Aspekte beleuchten. Wir werfen sodann mit einem Rückgriff auf die Ölkrise in den 1970er Jahren einen Blick auf das Phänomen des Arbeitspendelns und auf die Möglichkeiten, Büroarbeit auch ohne Büropräsenz zu verrichten. Mobilität und Erwerbsarbeit betrachten wir in als die zentralen Stellschrauben bei der heutigen Lebensgestaltung, um die sich nur die wenigsten von uns bei der Gestaltung ihres Lebens foutieren können – ungeachtet ihrer spezifischen individuellen Werthaltungen.
Die Mobilität ist der Transmissionsriemen aller Facetten unseres modernen Lebens, und die Erwerbsarbeit ist die Basis all unserer wirtschaftlichen Existenzen. Es gilt, was die Verkehrsbetriebe der grössten Schweizer Stadt mit «Wo wir fahren, lebt Zürich» und der Volksmund mit «Ohne Moos nichts los» auf eingängige Formeln gebracht haben. Wir wollen herausfinden, welche Drehungen, die an den beiden voneinander abhängigen Stellschrauben der Arbeit und der Mobilität in der Coronakrise vorgenommen wurden, auf Dauer Bestand haben können.
Schliesslich wollen wir Wirkungen, aber auch Erfordernisse einer Entwicklung hin zu mehr Sesshaftigkeit und Dezentralität unter die Lupe nehmen. Erfordernisse oder flankierende Massnahmen, die nötig sind, wenn aus unserem Land jene Dezentralschweiz werden soll, die diesem Buch den Titel gibt. Ausgehend von ausgewählten konkreten Beispielen im Umgang mit der verordneten Sesshaftigkeit beleuchten wir ausgewählte Handlungsansätze, die wir unter den genannten Nachhaltigkeitsprämissen für zukunftsfähig halten – in der Arbeitswelt, bei der Versorgung, in der Mobilität, bei den Erholungsräumen und bei den Siedlungen. Einige davon wurden bereits früher eingeleitet und erlebten 2020 einen Aufschwung, andere wurden erst dann entwickelt und lanciert.
Methodisch basieren wir auf eigenen Recherchen, auf öffentlich verfügbaren Daten sowie insbesondere auch auf Gesprächen mit gezielt ausgewählten «Kronzeugen», die sich mit den beleuchteten Themen eingehend befasst haben und dementsprechend kompetent dazu Stellung nehmen können.
Und noch ein letztes: Der Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler hatte 2019 in «NZZ Geschichte» die Frage zu beantworten, wie die Schweiz ihren Wohlstand und ihren Erfolg in der Vergangenheit begründet hat. «Durch erprobte, krisenfeste Praktiken kommunikativen Handelns», lautete seine Antwort. Mit dieser Schrift wollen wir einen Beitrag dazu leisten, dass dies auch für die Gegenwart und die Zukunft gelten kann.

 

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert